Der Motor einer Heumaschine röhrt auf. Das Pferd legt die Ohren an, trippelt nervös auf der Stelle. Feldarbeiter versperren den Weg. Die Gruppe Reiterinnen muss ausweichen. Einige sind sichtlich nervös. Wie reagieren die Pferde auf den ohrenbetäubenden Lärm? Schliesslich sind es Fluchttiere, die oft schon beim kleinsten Geräusch losrennen oder bocken. Das Leitpferd sticht links in eine Wiese, die anderen folgen. Es geht über sanftes Gras und bemooste Buckel hoch in Richtung Waldrand. Hier ist es ruhiger. 

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Die Gruppe ist gerade erst von Eva Arnoldis Stall für einen mehrstündigen Treck gestartet. Die 34-Jährige bietet Ausritte in der Nähe des 127-Seelen-Dorfs Osco an. Die Trecks sind rustikal. Es gibt keine Teilnehmerlisten, keine minutiöse Planung, keine vorgeschriebene Ausrüstung. «Tragt, was bequem ist», sagt sie am Telefon nur.

Arnoldi betreibt keinen Instagram-Kanal, wirbt nicht für ihr Angebot. Und doch kommen die Leute. Anfängerinnen, Profis, Touristen, Gelegenheitsreiterinnen. Viele aus der Region, aber einige auch von ennet dem Gotthard, aus dem Urnerland, von Luzern. 

Eva Arnoldi bietet in Osco TI Pferdereiten an

Bäuerin, Mutter und Pferdefreundin: Eva Arnoldi.

Quelle: Diana Ulrich

Am Waldrand ist Schluss. Links fällt der Hügel steil ab. Rechts versperren umgefallene Bäume den Weg. Die Gruppe muss umkehren. Zurück zum Pfad mit der lauten Maschine also. Die Reiterin auf dem nervösen Pferd steigt ab. Der sandfarbene Wallach – den sie erst kürzlich gekauft hat und mit dem sie hier Ferien macht – kennt nur die düstere Halle in der Stadt. Hier in der Natur soll er lernen, sich zu entspannen, Vertrauen zu fassen. Noch schnappt er nach seinen Kollegen, dreht sich im Kreis. Die anderen Pferde bleiben ruhig, schlagen nur genervt mit dem Schweif. 

Die Arbeiter schieben die Maschine weg. Endlich geht es voran. Oder besser gesagt aufwärts. Die Pferde kennen sich an den Hängen aus. Hunderte Male haben sie die Strecke zurückgelegt. Auf kürzeren Ausritten oder als Start für mehrtägige Trecks ins Gebirge. Trittsicher erklimmen sie den matschigen Steilhang, setzen konzentriert die Hufe zwischen Steinen und Wurzeln auf. Für die Reiterinnen gilt: nach vorn lehnen, sich am Sattelknopf festhalten, den Kopf zwischen die Schultern ziehen. Die Äste eines Baums streichen über die angespannten Rücken. Die Schwerkraft drückt die Reiterinnen tief in die Sättel. Vertrauen. Sich in den Gang des Pferdes einfügen. Geschafft. 

Hoch zu Ross hohe Berge erblicken in der Leventina

Hohe Berge, wilde Wiesen: Die Leventina hat viel zu bieten.

Quelle: Diana Ulrich

Als Belohnung für den Aufstieg tut sich vor der Gruppe eine Blumenwiese auf. Die Pferde stampfen durch das tiefe Gras. Vorweg in zügigem Marsch eine gescheckte Stute, der ein Auge fehlt. Tausende gelbe und weisse Blümchen recken sich zur Sonne. Eine Steinmauer als einziger Beweis, dass auch hier oben Menschen am Werk waren. 

Anders ein paar Hundert Meter weiter, wo sich die Autobahn rauschend durch das düstere Tal schlängelt. Es ist Ferienzeit. Holländer mit Anhängern, Deutsche im Campervan, Schweizerinnen im Cabrio. Vor dem Gotthard standen sie Schlange, nun geben sie Gas, das Ziel im Süden vor Augen: Lugano, Lago Maggiore, Toskana. 

Die Leventina, das Tal gleich hinter dem Gotthardpass, ist für viele nur Transitzone. Zu Unrecht. Wer den Aufstieg wagt, weg von der Autobahn, den Bahngleisen und Industrieanlagen, wird belohnt. Dort liegt ein kleines wildes Paradies, das sich am besten vom Rücken eines Pferds erkunden lässt. 

Sicher unterwegs dank speziell ausgebildeten Pferden

Die Ausritte bei Eva Arnoldi führen nicht über gut ausgebaute Wanderwege, sondern quer durch Wald und Felder. Sie hat ihre zehn Pferde dafür speziell ausgebildet, die Reiterinnen können sich sicher fühlen. Artù, halb Argentinier, halb Andalusier, ist seit anderthalb Jahren bei ihr auf dem Hof, erzählt sie. Der schwarz-weiss gescheckte Wallach trägt auch Anfänger zuverlässig durch die Landschaft. 

Schon als Kind half Arnoldi ihrem Vater mit seinen Tieren. Verbrachte einen ganzen Sommer mit Ziegen und Pferden auf seiner Alp. Nach Besuch der Landwirtschaftsschule in Landquart ging sie nach Kanada. Ritt auf der Ranch ihres Onkels Pferde zu. Begeisterte sich für den Westernstil. Bildete sich danach in der Schweiz bei verschiedenen Westerntrainern weiter. Seit elf Jahren betreibt Arnoldi nun ihren eigenen Stall.

Die entspannte Stimmung, wie man sie auf Westernhöfen in den USA oder Kanada antrifft, hat Arnoldi ins Tessin gebracht. Einfach zu finden ist ihr Reitstall allerdings nicht. Nach dem Gotthardpass führt eine einspurige Strasse hinauf auf eine Sonnenterrasse nach Osco. Von dort geht es über einen Schotterweg weiter steil den Berg hinauf. Adresse? Gibt es nicht. 

Arnoldi kommt das gerade recht. Seit Ausbruch der Pandemie wird sie von Pferdefans überrannt. Die Zahl der Ausritte habe sich verdoppelt. «Viele Leute machen Ferien in der Schweiz. Reiten war während der Pandemie eine der Sportarten, die man problemlos ausüben konnte», sagt sie.

Neben den Reittrecks führt die dreifache Mutter mit ihrem Mann einen Bauernhof. Vor kurzem hat sie ihre 120 Ziegen für den Sommer auf die Alp gebracht. Daneben leitet sie Sommerreitlager für Kinder, verkauft den hofeigenen Geissenkäse und begleitet Gruppen auf mehrtägige Reittouren. Oft komme sie erst gegen Mitternacht dazu, E-Mails zu beantworten.

Gekonnt von Teenagern geleitet

Es rauscht. Hinter der nächsten Kurve donnert ein Wasserfall ins Tal. Die Pferde setzen ihre Hufe vorsichtig auf dem Holzbrett auf, das über die Wassermassen führt. Rechts fällt der Hang steil ab. In schwindelerregender Höhe balancieren sie über den Fluss. Vom Berg grüsst eine Eselfamilie. Die Tiere recken interessiert ihre Köpfe in Richtung der Pferde. Diese reagieren nicht. Konzentriert bleibt ihr Blick nach vorn gerichtet. 

Den Ausritt leiten drei Teenager, die bei Arnoldi den Landdienst absolvieren. Den Sommer über wohnen sie bei ihr auf dem Hof und helfen mit. Seit zehn Jahren kommen die jungen Frauen aus Lugano und dem Bleniotal her, als Kinder hatten sie Arnoldis Reitlager besucht. Zwei Pferde haben sie in den letzten Jahren gar mit ausgebildet. Sie reiten ohne Sattel, in Wanderstiefeln, Shorts, die Bauchtasche quer über den Rücken gespannt. Das Gelände kennen sie in- und auswendig. «Alles okay?», versichern sie sich mit Blick zurück. Mehr als okay. 

Verkannte Ferienregion

Hier oben präsentiert sich die Leventina von ihrer besten Seite. Dabei hatte es das Tal, das sich entlang dem Ticino von Airolo bis Biasca erstreckt, in den letzten Jahrzehnten nicht leicht. Viele Einheimische wanderten ab, einige Unternehmen mussten schliessen. Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels 2016 wurde die Leventina noch weiter abgeschnitten. 

Mit Corona kam es nun zu einem Miniaufschwung in der Region. Natur zieht wieder. Und mit dem Treno Gottardo hat die Südostbahn die Region kürzlich wieder besser angebunden. 

Zurück geht es über einen bemoosten Waldweg. So steil es bergauf ging, fällt der Weg nun ab. Zurücklehnen, die Pferderücken entlasten, Fersen in die Steigbügel, eine Hand am Knopf des Sattels. Tannenzweige streichen über die Köpfe. Der erdige Geruch der Nadeln bleibt in der Nase hängen. Über dem Pfad thront ein gigantischer Felsbrocken. Auch das anfangs nervöse Pferd trottet nun gleichmässig mit. 

Der Wald lichtet sich und gibt den Blick auf Osco frei. Auf der anderen Talseite ragen die schneebedeckten Bergkuppen in den Himmel. Im Dorfkern dürfen sich die Pferde am Brunnen erfrischen. Enge Gassen führen zwischen den Steinhäusern durch. Die Reiterinnen versuchen, einen Blick hinter die weiss gehäkelten Vorhänge in die Häuser zu erhaschen. Auf den Strassen ist kein Mensch. 

Dann geht es zurück zum Stall. Vorbei am Weiler Vigera, vorbei an einem frei stehenden Haus mit knallroten Fensterläden, dann eine Haarnadelkurve. Die Siedlungen hinter sich, packt die Pferde der Stalldrang. Sie legen einen Zahn zu. Den Weg kennen sie blind.

Reittrecks in der Schweiz
  • Leventina Western von Eva Arnoldi in Osco: leventinawestern.ch
  • San Jon bei Scuol im Engadin: bis zu zehntägige Wanderreittrecks; Übernachtungen auf dem Hof sind möglich: sanjon.ch
  • Mas du Sapin: ein- oder mehrtägige Ausritte im Jura: camargue.ch
Buchtipp
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