Um das hier zu erwartende Spektakel in all seiner rohen Schönheit zu erfassen, hilft zuallererst ein Blick auf den Ort des Geschehens: Ein Spielcasino an einem Stadtrand im Norden der Schweiz. Da sind grelle Lichter, Spielautomaten, rote Spannteppiche und schicke Croupiers. 

Das ist der atmosphärische Überbau dieser Veranstaltung. Verheissung und Untergang. Triumph und Elend. 

Zwei Stockwerke weiter unten führt eine kleine Rampe in eine Art Showroom und dort findet an einem Abend im Mai eine Show statt, die sich in diesem Land offenbar im Untergrund verstecken muss, um keine gutbürgerlichen Gefühle zu verletzen.

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Wrestling, das ist mehr als Gewalt. Das ist Athletik und Schauspiel, Wildheit und Fantasie und nebenher – wie sich zeigen wird –  nicht weniger als ein Schmelztiegel einiger der ganz grossen Themen unserer Zeit. Wrestling, das ist die brutale Leichtigkeit des Seins.

Und wie jedes Spektakel, das etwas auf sich hält, hat auch die Sirius Sports Entertainment Wrestling Night im Grand Casino Basel einen Star. Bitte gut aufpassen jetzt und einen grossen Applaus, hier kommt:

DIE HELDIN, MICHELLE GREEN.

Wenn Michelle Green hinter dem schwarzen Vorhang hervortritt und im gleissenden Scheinwerferlicht einen schillernden Kampfgürtel präsentiert, dann donnert ihr aus den Zuschauerrängen schon der Applaus entgegen. Green, 164 Zentimeter gross, 59 Kilogramm Kampfgewicht, marschiert über einen kurzen Steg in den Ring. Springt in jeder Ecke auf die Seile, zeigt nochmal den Gürtel, spannt mit dem anderen Arm den Bizeps, schürzt die Lippen und nickt überlegen mit dem Kopf. 

Versatzstücke aus dem Baukasten für Boss Moves, Green kann sie alle. Das Publikum tobt.

Liebt es, die Leute zu unterhalten: Michelle Green.

Liebt es, die Leute zu unterhalten: Michelle Green.

Quelle: Eleni Kougionis

Das ist erstmal gut so, denn das Publikum spielt beim Wrestling eine entscheidende Rolle. Wenn es anpeitscht, ist das gut. Wenn es buht, ist das auch gut. Was nicht gut ist, das ist Schweigen, sagt Michelle Green. Darum haben sie hier ihre je eigene Taktik, um die Leute zum Kochen zu kriegen. «Ich fokussiere auf eine einzelne Person im Publikum», sagt Michelle Green. «Wenn ich es schaffe, dass diese Person in Ekstase gerät, dann tobt auch der Rest». Hinter den Kulissen ist viel von «Ringpsychologie» die Rede, aber dass mit Green eine Frau als Kämpferin derart bejubelt wird, damit war in dieser komplizierten Kampfzone namens «Prison Brawl» nicht unbedingt zu rechnen 

Noch vor zwanzig Jahren steckte die Subkultur Wrestling knieftief im Machismus. Jazzy Gabert, die heute diese Veranstaltung in einem Basler Keller organisiert, war damals eine der wenigen erfolgreichen Frauen im Show-Ringen. «Als ich vor dem Auftritt hinter der Bühne stand», erzählt sie, «und vorne der Showmaster das Publikum auf Kampftemperatur hochkochte, da sassen die Kerle in der ersten Reihe und riefen: «We want Boobies!» Wir wollen Titten. «Wir Frauen mussten auch alle diese supersexy Outfits tragen» sagt Gabert, «das war alles so sex-sells-mässig.»

Diesbezüglich lohnt es sich heute vielleicht, auf die feinen Unterschiede zu achten. Denn auch Michelle Green trägt eine knapp geschnittene Kampfmontur. Weil sie sich darin besser bewegen kann, sagt sie. Der Punkt ist: Green könnte jederzeit etwas anderes anziehen, die «sexy Amazone» ist nicht mehr die einzig denkbare Variation kämpfender Frauen.  Eine andere Wrestlerin, Candy Power, fliegt in einer Art Comic-Kluft als  lebendiger Lollipops durch den Ring. Mila Smidt ist ein cleaner Killer, Bozilla kämpft im Gewand einer römischen Soldatin, kurz: Wenn man die We-Want-Boobies-Erzählung der Alt-Wrestlerin Jazzy Gabert mit den Kämpferinnen in Basel abgleicht, dann hat sich einiges getan. 
 

Eleni Kougionis

Candy Power macht ihren Gegnerinnen als fliegender Lollipop die Hölle heiss. 

Quelle: Eleni Kougionis

Das tolle an den Athletinnen sind natürlich auch die schillernden Namen. Candy Power, Drake Destroyer. Undsoweiter. Nach der Bedeutung ihres Namens gefragt, erklärt Michelle Green: «Der Vorname Michelle bedeutet die Gottgesandte. Green ist die Farbe des US-Dollarscheins». Ihr Spitzname sei «the Money Making Machine, sagt Green. «Ich kämpfe, wie mein Name: Ökonomisch, zielstrebig, effizient.» 

Hinter dem Kampfnamen steckt Kalkül. Green will ganz nach oben und als Wrestlerin von einer der grossen Ligen in Amerika unter Vertrag genommen werden. Und weil der Sport stark von Stereotypen lebt, hat sie als Ökonomin und Schweizerin einen Charakter mit Verbindung zum Geld gewählt. Ihre ganze Rolle ist darauf ausgelegt, zielstrebig reich zu werden, und zwar als Antiheldin, nicht als Liebling der Massen. 

Allein, das mit dem reich werden, das wird nicht leicht. 

Notizen aus einer Blitzumfrage am Rand des Rings: Niemand der anwesenden Athletinnen und Athleten kann aktuell von diesem Sport leben. Nicht hier, nicht in der Schweiz. Die grossen Ligen wie die WWE füllen in den USA Hallenstadien. In Europa ist das ein Nischensport. Was die Athletinnen nach dem Kampf an Fanartikeln verkaufen – T-Shirts, gruslige Masken, signierte Fotos für 20 Franken – übersteigt die Höhe ihrer Kampf-Gage – und damit ist über die ökonomische Dimension dieser Veranstaltung schon alles gesagt. Es ist ein Knochenjob.

Noch zwei Sätze zu unserer Heldin, weil das alles so verwirrend interessant ist. Green hat an der Hochschule St. Gallen Wirtschaft studiert und einen Master in Unternehmensführung abgeschlossen. Ihr Vater war Diplomat, die Familie lebte in Indonesien, Spanien, Zimbabwe, sie spricht fünf Sprachen. Wie passt das nun zur Faszination, sich am Ende der Woche vor johlendem Publikum mit anderen Leuten zu prügeln, die ihre getrimmten Körper ebenfalls in Superheldinnenkostüme gesteckt haben?

Green sagt: «Ich liebe die Show. Ich liebe das Drama. Ich liebe es, als Kämpferin eine andere Existenz zu betreten und die Leute zu unterhalten. Die komplette Aufmerksamkeit gehört dann mir.» 

 

Eleni Kougionis

Bilder einer grossen Show. Frauen bestreiten an der Sirius Entertainment Wrestling Night in Basel die Hauptkämpfe des Abends. 

Quelle: Eleni Kougionis

So klingt das, wenn man hinter den Kulissen dieses wilden Fightclubs nach der Motivation des Personals fragt. Das ist bemerkenswert. Denn Wrestling steckt wegen der ganzen wilden Rauferei ein der Schattenecke der Unterhaltungsindustrie. Dabei ist etwas anders, feingeistiges, zartes, in diesem Kontext besonders erwähnenswert, nämlich: 

DIE FANTASIE

Der Mensch, das Bewusstseinstier, braucht bekanntlich Geschichten, um dem Elend des Lebens einen Sinn abzuringen. Im Sport, in der Politik und ganz sicher in der Wirtschaft lässt sich in der jüngeren Vergangenheit eine Zunahme von «Narrativen» beobachten. Von «Geschichten» also, die sich mal am einen oder anderen «Framing» bedienen. Wir leben, so könnte man das auch beschreiben, in einem fortdauernden Wettbewerb der Ideen – und Wrestling ist in dieser Disziplin ziemlich herausragend. Und in diesem Sinne also ein erstaunlich zeitgeistiger Sport. 

Zurück ins Casino. Der Backstage-Bereich gleicht dort einem Starthaus beim Skirennen, nur ohne Licht. Überall stehen muskelbepackte Athleten mit geschlossenen Augen, visualisieren den Kampf, repetieren Bewegungsabläufe. Schulterwurf links, Kinnhaken rechts. Wie Marco Odermatt  vor dem Start die Kurven der Wengenabfahrt, durchlaufen die Wrestler vor der Show eine Art innerer Generalprobe. Ein stummer Fightclub der Fantasie.  

Und in dieser rohen Umgebung also gedeiht nun eine ganz besondere Spielart von Fantasie, die sich wahlweise an Games, Comics, Filmen, am Ende des Tages aber natürlich ebenso sehr an den alten Dramen der römischen und griechischen Tragödien bedient. Verheissung und Untergang. Triumph, Verrat und Elend. Alles da.

Es gibt hässliche Helden, wie Krampus zum Beispiel. Der ist mit seinem Auto aus Salzburg hergefahren,  zog einen kleinen Rollkoffer, fragte höflich, wo er sich umziehen kann und stürmt dann während der Show mit einer wüsten Gesichtsmaske in den Ring. Durch einen offenen Schlitz in der Mundpartie kann er seine Zunge durchstrecken und wenn er das tut, skandiert das Publikum seinen Namen. «KRAMPUS, KRAMPUS». Wrestling lebt von Gut und Böse, Oben und Unten und vom kippligen Gefühl, dass sich die Machtverhältnisse jederzeit ändern können. Und weil es gut aussehen soll und nachvollziehbar und echt, wird hinter den Kulissen dieses Events viel über «Logik» und «Glaubwürdigkeit» geredet; die Bausteine jedes guten «Storytellings.». 
 

Eleni Kougionis

Muss mal wieder einen Angriff verdauen: Krampus, Wrestler aus Salzburg in Österreich. 

Quelle: Eleni Kougionis

Das führt zu rührenden Szenen. Wenn zum Beispiel zwei Stunden vor dem Kampf vier riesenhafte Hünen Backstage um den Ring herumtiegern und über, ja, den «roten Faden» und die «Dramaturgie» der bevorstehenden Kämpfe sprechen: 

«Wenn ich so mit dem Arm von unten angreife, dann musst du mit dem Kopf nach oben wegknicken, ok?»

«Aber wie wärs, wenn ich einfach stehen bleibe? Das könnte ein guter Effekt sein.»

«Nee das ist nicht glaubwürdig, ich komme ja aus der Drehung mit viel Schwung. Siehst ja, wie schwer ich bin.»

Die Männer gehen ein paar Schritte, schweigend. 

«Ich überleg immer: Wie würde das in einer Bar aussehen, wenn wir uns prügeln?»

«Du triffst mich hier, ich falle nach vorne, wumm. Kopf am Boden. Dann du, Camel Clutch. Zack, ich dreh mich raus.» 

Der Camel Clutch ist ein Wrestling-Griff, bei dem der Kämpfer den Rücken des Gegners von hinten durchdrückt und dabei den Kiefer mit den Unterarmen fixiert. Ein beliebter Kniff, um Gegner zum Aufgeben zu zwingen. 

Eleni Kougionis

Der Camel Clutch. Es ist natürlich beinahe aussichtslos, da wieder herauszukommen. 

Quelle: Eleni Kougionis

Wrestling ist Schaukampf, wer verliert und wer gewinnt bestimmt die Veranstalterin. Jazzy Gabert. Erstaunlich ist also nicht, dass vor der Show über den Ablauf der Kämpfe geredet wird. Erstaunlich ist, wie viel Zeit und Akribie in die Erzählung gesteckt werden. Gabert sagt, sie habe vor den Shows manchmal schlaflose Nächte, weil sie über die «Storyline» grübelt. Der Abend in Basel steht schlussendlich unter dem Titel «Prison Brawl», Gefängnisschlägerei. 

Regieanweisung: Die Kämpferinnen und Kämpfer sitzen wegen verschiedener Delikte im Knast. Wer gewinnt, kommt frei. 

Und wenn man den Antrieb der Leute, in diesen Ring zu steigen, in einem Begriff bündeln müsste, dann lautete auch der: Freiheit. Ein Zwei-Meter-Typ aus Bülach zum Beispiel, Benedikt Schenker, Kampfname Deadsaw, ist Innendienstler im Gewerbe für Lüftungsarmaturen. Krampus aus Salzburg ist Lieferant. Rick Salem, ein Wrestler aus Frankreich, unterrichtet Mathematik. Bei ihm könnte das Freiheitsversprechen so lauten:, Von Montag bis Freitag 16-jährigen Gymnasiasten die Satzgruppe des Pythagoras eintrichtern, um dann, am Samstagabend, einem Gegner mit einem heftigen Spinebuster die Lichter zu löschen. Bildlich gesprochen, natürlich.

Man muss diese Freiheit wollen. Wer hier mitmacht, will sie. Michelle Green: «Die wichtigste Technik beim Wrestling ist die Falltechnik». Heisst: Nur wer weiss, wie man mit ordentlich Rumms auf die Bretter knallt, ohne die Wirbelsäule zu brechen, besteht hier länger als einen Abend. 

Zurück zur Freiheit, denn auch das Publikum will die offenbar. Nur ohne die Verletzungsgefahr. Während der Kämpfe geht ein Johlen oder Buhen durch die Reihen, das wahlweise den Helden oder die Antagonistin beflügelt. Wrestling ist auch darum so anziehend, weil hier scheinbar übernatürliche Körper durch den Ring geistern mit Schultergelenken gross wie Bowlingkugeln. Deadsaw wiegt 101 Kilogramm, Drake Destroyer 140. 

Im Publikum sitzt ein Vater mit seinem Sohn. Der sagt: «Wrestling war für mich bis heute ein Ding von Youtube. Ich wollte das unbedingt einmal live sehen». Dort johlt eine Gruppe von Freundinnen, die erzählen, sie seien, na klar, aus versehen hier geladet. Schaumwein und Kaugummi, jeder Treffer wird frenetisch bejubelt. Und da sind die Hardcorefans. Bärtige Typen in der ersten Reihe. Sie haben einstudierte Schlachtrufe für ihre Helden. Und als ein Wrestler im Charakter eines französischen Schönlings aufreizend am Schnauzbart zwirbelt, brüllt einer dieser Bros zum Gegner in den Ring: 

«Hau das huere Genderstärnli kaputt!» 

DER STRIPPER, MÄNNLICH,

ändert dann mit einem Mal alles. Bis zur Halbzeitpause und einer «sexy Showeinlage, die wirklich niemand verpassen sollte» (O-Ton Showmaster) ist das kollektive Starren auf muskulöse, halbnackte Körper in Ordnung. Zumindest ist vonseiten des Publikums kein Widerspruch zu hören. Aber als dann in der Pause eben dieser Stripper - männlich und damit offenbar nicht Erwartung erfüllend –, den Ring betritt – da ist insbesondere bei den Männern im Publikum plötzlich der Ofen aus. 

Folgendes passiert: Der Polizistenstripper holt eine Frau aus dem Publikum in den Ring. Sie sitzt auf einem Stuhl, er entblösst lasziv seinen Oberkörper und fängt an zu tanzen. Und in der ersten Reihe fangen jetzt die Bros an, nervös auf den Stühlen herumzurutschen, sie schütteln die Köpfe und zetern und stehen dann auf, einer nach dem anderen, und gehen demonstrativ eine rauchen. 

Da richtet sich kurz also der Blick auf uns, das Publikum, wie wir da sitzen. Die Männerkörper im Aufführungsmodus der Rauferei haben wir ziemlich gelassen wegkonsumiert. Da wurde eben gekämpft, so haben wir das auch gelernt: Boys will be Boys. 

Aber jetzt, wo eine neue Erzählung von der, Achtung, Sexyness dazukommt, da wirds irgendwie stressig. Sprengt denn nun diese Fantasie plötzlich den Rahmen und, Moment mal, ist das hier etwa doch nicht alles so anything goes, wie wir eingangs dachten? Jetzt nur nicht zu kritisch werden, wir sind hier schliesslich nicht an der Akademie und uff, Glück gehabt, da läutet auch schon der Gong und dann gehts ab in

DAS GROSSE FINALE

Ganz recht, da kommt Green, Michelle Green, die Titelverteidigerin und liefert sich ein packendes Duell mit Mila Smidt. Smidt ist die Antagonistin, und Green landet in der Rolle der Heldin einen Volltreffer nach dem anderen, ja, am Ende schraubt sie die Gegnerin in einen Würgegriff ohne Entrinnen. Der Ringrichter schnaubt und zählt Smidt mit rudernden Armen der Niederlage entgegen. EINS, ZWEI –

Da zieht plötzlich der Trainer von Smidt, ein schmieriger Unsympath, Michelle Green von ausserhalb des Rings am Bein und bringt unsere Heldin komplett aus der Fassung. Smidt befreit sich, wirft Green auf den Rücken. Und gewinnt. «Schande», brüllt das Publikum und der schmierige Trainer lacht ein dreckiges Lachen, während am Rand des Rings schon die Konfettikanonen gezündet werden. KABUMM! Eigentlich wäre das Finale jetzt vorbei. 

Doch da tritt zu triumphaler Musik einer mittelgrossen Blaskapelle noch ein Überraschungsgast hinter dem Vorhang hervor: Bozilla,180 Zentimeter gross, 88 Kilogramm schwer. Begleitet wird sie von ihrem Vater: Herman the German. Auch eine Wrestling Legende. Bozilla stapft in den Ring und gibt der Smidt «ein paar aufs Mett». So sagt sie das. Smidt wird ausgezählt, aus, vorbei, KABUMM, noch mehr Konfetti schiessen in den Saal. Das Publikum hängt längst erschöpft in den Stühlen. 

Licht an. Michelle Green steht schon am Tisch und schreibt Autogramme. Sie hat sich den besten Platz gesichert; ganz nahe am Ausgang, wo alle vorbei müssen, die rauswollen. 

So ist sie, diese Heldin. Ökonomisch, zielstrebig, effizient.